Kinder der Küste

Von HANS-HARALD SCHACK

 

Die Nordseeküste zählt zu den Gebieten, um die Reiseschriftsteller gern einen Bogen machen. Der irische Schriftsteller Erskine Childers hat mit dem „Rätsel der Sandbank“, seinem Polit-Thriller aus der Kaiserzeit, der Küste und dem Wattenmeer ein Denkmal gesetzt, aber auch eingeräumt, dass diese kühle Landschaft zwischen Ebbe und Flut literarisch ein harter Brocken sei. Von Wilhelmshaven wird in Marinekreisen erzählt, über „Schlicktown“ weine man zweimal, nämlich bei der Versetzung dorthin und wenn man wieder weg muss. Ich bin gegenüber der Jade-Stadt an der Weser geboren, in Bremerhaven. Meine Kindheit verbrachte ich in Ruinenkellern, die unter Wasser standen, und auf den Baumstämmen, die im Alten Hafen im Wasser lagen und darauf warteten, zu Dalben und anderem nützlichen Pfahlwerk verarbeitet zu werden. Sie wurden auch in den Grund der Baugruben gerammt, wobei ich stundenlang zusehen konnte.

 

Später, während meiner Schulzeit an der Ostseeküste, packte es mich manchmal und ich trampte nach Westen, weil ich „an die See“ wollte, und das war immer die Nordsee. Im Grunde wollte ich nach Hause. Später, an einem Februartag in Hamburg, während ein Südweststurm die erste milde Atlantikluft ins winterliche Deutschland blies, packte mich eine Art Heimweh und ich kaufte mir kurzerhand einen kleinen Küstenkreuzer, mit dem ich dann die nächsten Jahre die Gegend zwischen Ost- und Nordfriesland erkundete.

 

Wieder ein paar Jahrzehnte danach traf ich den Fotografen Heinrich Hecht an der Ostsee. Wir hatten schon ein paar Mal zusammen gearbeitet, uns dann aber lange nicht gesehen. Er erzählte mir, dass er seit Jahren in seiner freien Zeit mit einer Spezialkamera Deutschlands Küsten fotografiert. Von dieser handgefertigten Kamera gibt es nicht viele Exemplare (Hecht hat die Baunummer 17), und eigentlich ist sie für die Architektur- und Industriefotografie entwickelt worden. Sie ist aber mit ihrem extremen Breitbild-Format besser als jede andere Kamera geeignet, gestochen scharf die Weite des Horizonts und des Himmels einzufangen. Also hat Heinrich Hecht, wie ich ein Kind der Küste, ihr mit seinem Werkzeug ein Denkmal gesetzt. In seinen Bildern habe ich gefunden, was den Charakter dieses Landes und dieser Landschaft ausmacht.

 

Die Küste ist Menschenwerk

 

An der Küste sagt man: Gott schuf das Meer, der Mensch die Küste. Tatsächlich ist die Nordseeküste eine der eindrucksvollsten Kulturlandschaften überhaupt. Mich beeindruckt sie weitaus mehr als die Chinesische Mauer, deren Bauwerke es zeitweise auf 10 000 Kilometer Gesamtlänge brachten, oder die Pyramiden. Sowohl die Mauer als auch die Pyramiden schafften die Grundlage für ein Staatswesen und die Existenzberechtigung für eine gewaltige Bürokratie (die bei den Ägyptern mit der Priesterschaft verbunden war). Man redet in den Geschichtswissenschaften von Nomaden-Gesellschaften, Jägern und Sammlern, von Fischern und von Ackerbauern. Von Deichbauern ist erstaunlicherweise nie die Rede, obwohl für die Kultivierung der flachen Nordseeküsten ein auch in ungewissen Zeitläuften stabiles politsches System erforderlich war, oft als „mittelalterliche Bauernrepubliken“ bezeichnet. Die Küstenmenschen schafften über die Jahrhunderte ein Bauwerk, an dem die Arbeit nie ruhte und an dem es nicht mal eben ein, zwei Jahre Baustopp oder Kleinkrieg oder politische Pattzustände geben durfte. „Ich bin der alte Aeolus“, sagt der Windgott in einem Gedicht, „euch Friesen wird noch oft ein Gruß / in Sturm und Drang aus meinem Reiche. / Ich rat euch drum: Pflegt eure Deiche!“

 

Die See kommt und geht, wie sie will, und sie stürmt und rennt gegen die Deiche an, und es ist ihr völlig egal, ob die Küstenbewohner Geld für den Deichbau haben oder nicht. Die Küstenbewohner haben sich zu Deichverbänden zusammengeschlossen, früher „Deichachten“ genannt, in denen jeder mit anpacken und nach der Größe seines durch den Deich geschützten Besitzes Geld und Baumaterial stellen musste. Das Amt des Deichgrafen, Deichschulzen oder Deichrichters genießt höchstes Ansehen. Die Deichverbände gibt es heute noch, aber sie sind jetzt in die modernen Strukturen der Länder eingebunden und unterstehen den Wasserwirtschaftsämtern. Und auch das Geld für Deichbau und -pflege muss nicht mehr sparsamen Bauern in zähen Verhandlungen abgetrotzt werden, sondern kommt „vom Steuerzahler“.

 

Deichgrafen leiten den Kampf gegen die Fluten

 

Mir erzählte ein alter Deichgraf von der Elbe, 25 Jahre nach der große Flut von 1962, wie er damals in der Dunkelheit von Bauernhof zu Bauernhof gefahren war, um die alten Binnendeiche zu schließen. Sie hatten eigentlich keine Funktion mehr, denn das Land wurde durch neue Hauptdeiche am Fluss geschützt. Überall wurde er erstmal zu Kaffee und einem Schnaps eingeladen, aber er musste weiter. „Die Bauern nahmen die Gefahr nicht ernst“, sagte er. Einige hatten die Holzbalken, mit denen die Deichdurchfahrten geschlossen werden sollten, verrotten lassen, andere hatten sie auf ihrem Anwesen verbaut. Die Außendeiche brachen, die Marschen versanken in der Flut, das Wasser kam an die Binnendeiche, und auch sie hielten nicht überall stand. Hamburgs tatkäftiger Innensenator Helmut Schmidt wurde über Nacht zu einem Helden, und der alte Deichgraf in seiner Küche hatte Tränen in den Augen, 25 Jahre nach der Katastrophe, denn er hatte in diesen Tagen kein Glück gehabt.

 

Der berühmteste Deichgraf ist natürlich Theodor Storms gespenstischer „Schimmelreiter“. Hauke Haien beobachtet schon als Kind, wie die Wellen die Deiche hochschlagen, er formt Deichmodelle aus Lehm und tritt alsbald in den Dienst des Deichgrafen. Später, als er selbst Deichgraf ist, baut er den ersten modernen, flach ansteigenden Deich Nordfrieslands. Bei Wind und Wetter inspiziert er auf seinem Schimmel die Deiche, und noch heute kann man in den Nächten, die schweren Sturmfluten vorangehen, den Schimmelreiter schemenhaft über den Deich jagen sehen. Das Vorbild für Storms „Schimmelreiter“ ist, soweit er eine Gespenstergeschichte ist, eine Sage aus dem Ostseeraum, für den wissenschaftlich denkenden und experimentierenden „modernen“ Deichgrafen dürfte der Deichrichter Albert Brahms (1692 – 1758) aus Sande an der Jade Pate gestanden haben. Der „Schimmelreiter“ ist auch eine Geschichte über den Kampf zwischen Wissen und Fortschritt auf der einen und Tradition und Aberglaube auf der anderen Seite.

 

Zum Aberglauben gehört, auch wenn er als christlicher Glaube daherkam, dass in jeder großen Flut eine Strafe für Reichtum, Hochmut, Gottlosigkeit etc. zu sehen war. In „Sündfluten“ starben Mensch und Vieh in Scharen. Im Februar 1164 kostete die „1. Julianenflut“ in West- und Ostfriesland 20 000 Menschen das Leben, in der 1. Marcellusflut (1219) ertranken im selben Gebiet 36 000 Menschen, in der Luciaflut (1287) rund 50 000 Menschen und in der 2. Marcellusflut, die auch die reiche nordfriesische Insel Rungholt dem Meeresboden gleichmachte, rund 100 000 Menschen an der Küste.

 

Und so ging es in jedem Jahrhundert weiter. Man fragt sich, warum machen die das immer wieder, warum ziehen die nicht weg? Aber die Menschen hungern sich durch und bleiben. Die Deiche, die vor tausend Jahren niedrige Erdwälle waren, die Ernten vor Überflutung schützten, wurden mit den Jahrhunderten immer höher, die Fluten auch.

 

Noch 1953 ertranken in Holland 2000 Menschen. Die bisher letzte Sturmflut an der Nordsee, die Menschenleben gekostet hat, war die Februarflut von 1962, als in Deutschland 340 Menschen ertranken, die meisten davon in Hamburg, und 75 000 obdachlos wurden. An 120 Stellen brachen die Deiche. Danach wurden an der ganzen Küste die Deiche im Schnitt um zwei Meter erhöht. Es kam zu weiteren schweren und höheren Sturmfluten, fünf allein binnen vier Wochen im Spätherbst 1973, aber es ertranken keine Menschen mehr. Über 1000 Kilometer Deiche und Schutzbauten trotzen heute dem Blanken Hans. Mit Überflutungen müssen die Küsten trotzdem leben, denn wenn die Sperrwerke und Siele wegen hoher Wasserstände „buten“ geschlossen bleiben müssen, können Regen und Schmelzwasser aus dem Landesinnern nicht abfließen, sondern müssen abgepumpt werden. Wenn das nicht schnell genug geht, stehen „binnen“ schon mal Wiesen und Weiden unter Wasser. Aber es ist Süßwasser.

 

Mehr Wasser im Meer

 

Der Meeresspiegel steigt seit Jahrhunderten, weil die Landeismassen seit der letzten Eiszeit schmelzen. Der Klimaforscher Hartmut Graßl hatte in Hamburg sein Büro im 18. Stock eines Uni-Hochhauses, und er erzählte gern, dass dort, wo sein Schreibtisch stand, noch vor 10 000 Jahren Gletschereis war. Zu der Zeit konnten die Jäger auch noch trockenen Fußes nach England laufen. Doch seit dem Ende der Eiszeit steigt der Meeresspiegel kontinuierlich, allein im letzten Jahrhundert um 25 Zentimeter. Und wie es derzeit scheint, beschleunigt sich diese Entwicklung. Gleichzeitig nehmen die Stürme an Häufigkeit und Stärke zu. Der Wasserbau-Ingenieur Dietrich Klein, dessen Büro einen Großteil der Hamburger Deicherhöhungen seit Ende der 80er Jahre plante, erwartet eine neue Deichbaukampagne an den Küsten für die Zeit ab 2030, wobei Hamburg bei der letzten Deicherhöhung bereits für ein ganzes Jahrhundert vorgebaut hat – nach Menschenermessen.

 

Es ist erstaunlich, dass die Nordseeküsten nicht eine gewaltige Urlandschaft geblieben sind wie etwa Patagonien oder die sibirischen Flussmündungen. Plinius der Ältere, Forscher und Armeeoffizier, schilderte vor 2000 Jahren das armselige Leben der Küstenbewohner, die mangels Holz mühselig getrockneten Torf verbrennen, und man fragt sich, warum überhaupt Menschen in diesem Land siedelten, dass die Hälfte des Tages Meer war. Eine Antwort ist: Man hatte dort etwas mehr Ruhe als anderswo. Es kann nützlich sein, sich zwischen Mooren, Sümpfen, undurchdringlichen Wäldern und Meeresarmen niederzulassen, wenn Armeen und andere hungrige Horden durchs Land streifen. Während des 30jährigen Krieges, so haben Historiker nachgewiesen, mussten Dörfer, die weitab vom Schuss lagen, seltener aufgegeben werden als jene an Handelsstraßen. Andererseits: Wenn Räuber, Soldaten und Steuereintreiber ein Dorf heimsuchen wollen, dann finden sie es auch. Die Römer forderten von den Friesen Tribut in Form von Rindsleder und bekamen ihn. Aber den römischen Fimanzbeamten waren die Häute der friesischen Hausrinder zu klein. Zum Ausgleich wurden junge Friesen als Sklaven weggeführt, und eines Tages ergriffen die Friesen die  Steuereintreiber und kreuzigten sie, wofür der Chronist Tacitus, wohl selbst Steuerzahler, ein gewisses Verständnis aufbrachte.

 

Zum Leben langt's

 

Ein weiterer Grund für das Siedeln an der Küste könnte sein, dass die besseren Lagen im Rheinland und im Westerwald bereits vergeben waren. Alle unwirtlichen Gebiete der Erde dürften von Auswanderern erobert worden sein, die ein unbehelligtes Leben mit etwas weniger Komfort für das kleinere Übel hielten. Und die Wüsten und Polargebiete sind weitaus unwirtlicher als die Nordseeküste. Wenn man sich einmal damit arrangiert hat, dass man auf Hügeln oder hinter Deichen leben muss, ist es ein wunderschönes Land, in dem es auch im Sommer meistens ziemlich frisch ist, in dem aber, übers Jahr, zwischen Eiseskälte und Bullenhitze jede Form von Wetter möglich ist. Die Sommer haben ein Gesicht, sie sind „Jahrhundertsommer“ oder „total verregnet“, sie sind stürmisch oder „für die Jahreszeit zu kühl“ oder heiß und trocken und meistens zu kurz. Eisige Winter sind ein Geschenk, Sturmfluten ein Sightseeing-Ziel und Winterstürme ein Grund für Heimwehgefühle. Kurz, es ist ein Land, dass man um seiner selbst willen lieben kann. „Dor is mine Heimat, dor bün ik to Hus“, wird von Borkum bis Bredstedt in jeder Kneipe von der Juke-Box gespielt, wobei es niemanden stört, dass das „Nordseewellenlied“ in seiner Urform von den Ostseewellen handelte.

 

Der amerikanische Biologe Bernd Heinrich meint, dass „Lust“ ein wesentlicher Antrieb für das Handeln von allen höheren Lebewesen ist, dass man aus „Lust“ heraus Dinge tut, die sinnvoll sind, obwohl sich ihr Sinn einem zunächst nicht erschließt. Die Biologen erklären so den Spieltrieb von Tieren, die Lauflust von Gabelböcken, aber auch den Wandertrieb von Zugvögeln. Wobei sich dieser Wandertrieb ja aus zwei Komponenten zusammensetzt: Fernweh und Heimweh, falls man sich dafür entscheiden kann, wo Heimat und was die Ferne ist. Udo Lindeberg hat in „Hoch im Norden“ gesungen: "Hier wirst du auf die Dauer / nur Schipper oder Bauer" und ist dann „nach Süden“ abgehauen, um in der nächsten Strophe bereits seine Sehnsucht nach der Nordsee zu bekunden. Heimatliebe mag eine starke Komponente sein, aber sie muss sich erst entwickeln. Und Tacitus hätte bereits die Erklärung im Zitatenschatz gehabt: Ubi bene ubi patria – wo es gut ist, ist mein Vaterland. Und es kann einem gut gehen an der Küste. Sie bietet Schutz, wenn man’s richtig anstellt, sie bietet Nahrung. Sie bietet heute: Jobs.

 

Wirtschaftsraum Küste

 

Die Küste ist nicht nur Land’s End, Finisterre und der Rand der bewohnbaren Welt. Sie ist zugleich Tor zur Welt, die Flüsse waren schon immer Transportweg durch Urwälder und Sümpfe,. Heute sind die Unterläufe der Flüsse Verkehrsweg für Fahrzeuge, deren Ladevermögen das eines Karrens ums Huntertausendfache übersteigt. Der Geologe und Geograph Heinz Klug erweitert in seinem Buch „Flutwellen und Risiken der Küste“ den geographischen Küstenbegriff, der das Gebiet ab der Flachwasserzone bis zur Deichkrone oder Geestrücken umfasst, auf den gesamten Wirtschaftsraum zwischen Land und Meer. Für ihn ist die Küste „bevorzugter Siedlungs-, Wirtschafts- und Erholungsraum, Feld militärischer Interessen und in ihrer Sammel- und Verteilerfunktion erstrangig ein Platz von höchster Verkehrsbedeutung“. Schon die Römer nutzten das Meer als Transportweg für Güter, die den Reichtum Roms mehrten, und als Aufmarschwege für Soldaten, die dafür sorgten, dass Handelsgüter und Tribute für die Hauptstadt am Tiber nicht ausblieben.

 

Auf Flüssen kann man weite Reisen ins Landesinnere und durch völlig unwegsames Gebiet unternehmen, wo man an Land in Sümpfen und Gestrüpp hängenbliebe. Wilhelmshaven wurde als Militärstützpunkt an der Nordsee gegründet, im „Rätsel der Sandbank“ zerbricht sich der Autor den Kopf mit strategischen Gedanken über die Eigenheiten der deutschen Küste, die geschützt hinter einer Inselkette liegt. Invasionen beginnen an Küsten (auch wenn heute teilweise der Luftraum die Rolle eines Meeres, über das man jeden Punkt der Erde erreichen kann, übernommen hat). Zumindest das schwere Gerät und große Teile des Nachschubs werden nach wie vor übers Meer transportiert.

 

Wer heute die Küste bereist, sieht riesige Schiffe dahinziehen. An der Ems, im Binnenland, werden die größten Passagierschiffe der Welt zusammengeschweißt und in Zentimeterarbeit zum Dollart hinab gelotst, um von dort ihre Reisen in die Karibik und nach Norwegen, Südamerika und Asien anzutreten. Die Jade ist zur Straße des Mineralöls geworden. Sie wurde für Großtanker ausgebaggert, die an den Pumpstationen ihre Ladung „löschen“ (bevor sie überhaupt zur Verbrennung aufbereitet wurde). Die Vertiefung der Jade hat für Segler den Vorteil, dass sie bei Sturm – nicht bei „Wind“ – noch einen Fluchtweg haben, über den sie einlaufen können, wenn die „Seegatten“ zwischen den Inseln durch Brandung bereits unpassierbar geworden sind.

 

Menschenwerk und Naturschutz

 

Die jüngste Vertiefung der Jade war nicht so problematisch, denn der Jadebusen, eine riesige Bucht, die durch eine Reihe von Sturmfluten ins Land geschlagen wurde, ist gut gesichert und bietet reichlich Stauraum für Wassermassen, die über die Jade herandrängen. Die Vertiefung der Elbe hingegen, die für immer größere Container-Schiffe passierbar gemacht wurde und weiter vertieft werden soll, bringt Probleme mit sich: Die Flutwellen dringen tiefer ins Land und sie stauen sich dabei höher auf. Flussvertiefung erfordert Deicherhöhung. In den nächsten Jahren soll bei Scharhörn, im gemeinsamen Mündungsgebiet von Weser und Elbe, ein Tiefwasserhafen entstehen, der von den größten Schiffen angelaufen werden kann und die Wirtschaft an der deutschen Küste konkurrenzfähig halten soll. Denn die Häfen stehen untereinander in Konkurrenz. Die Urwälder sind einem leuchtenden Industriedschungel gewichen. Man mag die riesigen fensterlosen Blechkästen, die in Bremerhaven Autos laden, nicht zu den Schönheiten zählen – die glitzernden Industrielandschaften am nächtlichen Fluss aber sind zweifellos ein Anblick, mit dem man sich anfreunden kann. Wie wird es hier in fünfzig Jahren aussehen?

 

Die Eingriffe, die die Menschen an der Küste unternommen haben, sind behutsam geschehen. Natürlich haben wir die Natur verändert, aber das Veränderlichste an der Küste ist die Natur selbst. Die Insel Sylt wird jedes Jahr mit immensem Aufwand wieder halbwegs so aufgespült, wie sie im Herbst, vor den Winterfluten war. Die Insel Juist hat in den letzten Jahrhunderten fünfmal ihren Kirchplatz verlegen müssen, weil die Inseln im Grunde vom Meer umgebene Wanderdünen sind, die von ihrem Bewuchs mehr schlecht als recht an ihrem Ort gehalten werden. Die Halligen waren einmal aufgeworfene Hügel (Warften, früher Werften) an Land, jetzt sind es Hügel im Wattenmeer.

 

Bei allen Deichbauarbeiten und bei der Gestaltung der Küste wird heute an den Naturschutz gedacht. Die Nationalparks Wattenmeer erhalten die Rasträume für Millionen von Zugvögeln, es werden für neue Wasserbauten alte abgedeichte Gebiete renaturiert und dem Gezeitenrevier zurückgegeben. Die Naturschützer kämpfen gegen „die Industrie“ und die Wirtschaftsprojekte, und am Ende kommen eigentlich immer gute Kompromisse zwischen Küstenschutz, Wirtschaftsinteressen und Naturschutz heraus.

 

Der Mensch hat die Küste zur Ruhe gebracht, und er hat es so getan, wie er es für richtig hielt. Er hat sie zum Lebensraum für Menschen gemacht.

 

Und wenn’s auch nicht für die Ewigkeit ist – es ist gut.

 

(Erschienen in: Heinrich Hecht / Hans-Harald Schack, "Nordseeküste - Panoramabilder", Heel Verlag