Das Meer, auf dem ich das Seesegeln gelernt habe, war lange für mich nur die erste Station der Sehnsucht. Die Küsten dieses Meeres gehörten zu Schleswig-Holstein, Dänemark und Südschweden, und das Ganze hatte einen Ausgang, nach Norden, Richtung Nordsee und Atlantik. Von Kiel oder der Flensburger Förde, wo unser alter Lotsenkutter lag, gingen meine Gedanken oft Richtung Kattegat und Skagerak. Aber wir segelten nicht in die Welt hinaus, sondern blieben in der Ostsee. Es gibt hier mehr Häfen und keine Tiden, und genug Wind auch.
Die Ostsee war ein enges, kleines, recht stilles Meer. Ich las in meiner Koje die Berichte von Weltumseglern, am liebsten Bernard Moitessier. Damals erschien es mir noch billiger, mit einem kleinen Boot in die Welt aufzubrechen, das Fliegen war noch teuer. Das hat sich geändert, wie so manches in der Ostsee. Wir Segler im Westen kannten all die Jahre ein lockendes Ziel, aber wir fahren klug genug, nicht hinzufahren: die DDR-Küste. Von Lübeck wegsegelnd, lag da im Dunst an Steuerbord eine graue Küste, am Priwall-Strand drohte stumm ein Wachturm, und dann zog sich das Land zurück. Bei Nordwest- oder Nordwind musste man aufpassen, dass man sich nicht vom Wind in die Hoheitsgewässer der geschlossenen Gesellschaft drücken ließ. Ich kam mir vor wie Moses, der das Land Kanaan vom Berge noch sehen, aber nicht betreten darf. Manchmal haben wir mit dem Gedanken gespielt, dass uns kurz vor der „Zonengrenze“ auf See das Großfall bricht oder ein Tampen in den Propeller gerät, und dass wir dann einen Nothafen in der DDR anlaufen müssten.
Das wäre ein schönes Abenteuer gewesen. Aber die Sorge war zu groß, dass man uns ohne das Boot auf dem Landweg nach Hause geschickt oder andere unschöne Maßnahmen ergriffen hätte. Freunde in der DDR haben mir erzählt, dass sie es umgekehrt so gemacht haben. Die wenigen, die die begehrte Genehmigung bekamen, in internationale Gewässer auszulaufen, richteten es manchmal so ein, dass sie auf Bornholm einen Nothafen anlaufen mussten.
Dann kam die Wende. Wir fuhren das erste Mal zwischen Weihnachten und Silvester 1989 mit drei kleinen Booten nach Wismar. Wir waren die ersten „Westboote“ in diesen Gewässern und wurden mit Kaffee und Kuchen begrüßt. Es war eisig kalt. Ein Segelfunktionär raunte mir zu, man müsse Fakten schaffen, bevor sich die strauchelnde DDR-Führung berappelt und die „Reiseerleichterungen“ wieder kassiert.
Die Begeisterung für die neu entdeckte Küste vor unserer Haustür war immens. In den folgenden Sommern fuhren wir nach Warnemünde, zum Darß, zum Peenestrom, nach Stralsund. Wismar war ziemlich heruntergekommen, aber es war noch das Original. Heute ist die alte Hansestadt eine Perle, und nur eine unter vielen.
An ihrem nördlichsten Ende lernte ich die Ostsee von einer weiteren Seite kennen, von der ich bis dato keine Ahnung hatte. Das geschah in zwei Etappen. In der Gegend von Haparanda, an der schwedisch-finnischen Grenze, war ich mit einem Filmteam unterwegs. Wir fuhren mit einem Eisbrecher ins Meer hinaus. Das Eis war in diesem wärmsten Winter seit Beginn der Wetteraufzeichungen (wie uns die Meteorologen mehr als einmal erklärten) nicht sehr dick, stellenweise kaum einen Meter, und unser kleiner Eisbrecher hielt darin manchmal an und fuhr dann mühelos weiter. Der Antrieb unterm Heck drückte eine Menge eisiges Wasser nach hinten, das bullige Schiff hob sich auf seinen Eisbrecherbug, der mich an meine Spaltaxt fürs Kaminholz erinnerte, sank krachend herab und fuhr los, das Eis zerschneidend. Die Schollen verschwanden unterm Rand der Eisdecke. Dann hielten wir wieder an, und Nils der Lotse stieg mit einer Leiter aufs Eis hinab, bohrte ein Loch hindurch und maß die Dicke. Zwischen Schweden und Finnland waren Straßen auf dem Eis eingerichtet. Später begleitete ich Nils, wie er einen russischen Holzfrachter ins offene Meer führte.
Die Schweden waren zu Wasser und zu Lande mit Motorschlitten unterwegs wie unsereins mit dem Fahrrad in der Stadt. Das Nölen der Zweitakter war kilometerweit zu
hören und nervte bei Ton-Aufnahmen. Mit den Lichtverhältnissen gab es kein Problem, es war bereits März und täglich zwölf Stunden hell. Das Problem war der Schnee. Das Filmteam brauchte Schnee,
und im wärmsten Winter s. B. d. W. hatten wir so wenig Schnee, dass wir ihn als bedrohte Niederschlagsform unter Schutz stellen mussten. Wir errichteten mit Plastikband Absperrungen um die weißen
Flächen, damit niemand versehentlich die kostbaren Motive mit Fußstapfen ruinierte. (Es wurde noch auf Zelluloid gedreht, und man konnte Schnee nicht digital produzieren.)
Eines Abends kündigten die Meteorologen „einen guten altmodischen Schneesturm“ an, und alle waren glücklich. Es würden übrigens noch wärmere Winter folgen, weissagten die Wetterexperten nach Dienstschluss beim Bier, und insgesamt werde es in der Ostsee in Zukunft stürmischer. Die eisige winterliche Ruhe im Norden der Ostsee sei möglicherweise für die nächsten Jahrtausende vorbei.
Bei meinem nächsten Besuch hoch im Norden des Bottnischen Meerbusens war es rund um die Uhr hell. Am Lagerfeuer östlich von Lulea traf ich Hinrich, einen Geografie-Dozenten aus Greifswald, der mit seinem VW-Bus rund 1800 Kilometer nach Norden gefahren war. Im Bus hatte er 200 Tetrapak-Kartons roten Landwein verstaut, mit dem man in Schweden schnell Freunde gewinnen kann. Die Reise war für ihn eine Abenteuer- und Studienfahrt, denn er wollte mit eigenen Augen die Sedimente und versteinerten Muscheln und all die anderen Zeugnisse sehen, durch die man weiß, wie die Ostsee entstanden ist, und die er bisher nur aus Büchern kannte.
Ich wusste, dass die Ostsee manchmal ein totes Meer genannt wurde, die Naturschützer beklagten in jenen Tagen hauptsächlich die Überdüngung durch die Landwirtschaft. Soweit ich wusste, fand ab zwanzig Meter Tiefe, bis auf den internationalen U-Boot-Verkehr, kein höheres Leben mehr statt, es gibt höchstens noch anaerobe Einzeller. Sauerstoffhaltiges Wasser, in dem Fische leben können, ist nur oben. Alles Unsinn, erklärte mir Hinrich und briet sich, unbeeindruckt von Mückenschwärmen, seinen Lachs. Die Überdüngung sei sicher ein aktuelles Problem, aber auch so ist die Ostsee schon seit 10 000 Jahren das größte Brackwasser der Welt. 10 000 Jahre sind erdgeschichtlich ein Augenblinzeln.
Die Ostsee ist ein sehr junges Meer, das sich manchmal nicht so recht entscheiden kann, was es nun eigentlich sein will. Im Vergleich zu den Weltmeeren, erzählte Hinrich, ist die Ostsee eine frische Pfütze. Sie entstand nach der letzten Eiszeit aus geschmolzenem Gletschereis. Der Begriff „Eiszeit“ sei zwar üblich, aber im wissenschaftlichen Sinne nicht ganz korrekt, denn es war nur eine Kaltzeit innerhalb des Eiszeitalters, und das dauere schon 2,5 Millionen Jahre. Ebenfalls nicht viel Zeit, wenn man bedenkt, dass es Leben auf der Erde tausendmal länger gibt. Hinrich nahm einen Schluck Wodka von mir, ich war mit einem kleinen Karton für meine schwedischen Freunde angereist. „Vor zwölftausend Jahren lag hier alles unter zwei bis drei Kilometer dickem Eis, und als das zurück ging, bildete sich bei den heutigen Aland-Inseln ein Schmelzwassersee, der sogenannte Baltische Eisstausee.“ Hinrich beugte sich zum Feuer und prüfte den Lachs, ein paar Mücken hoben satt von seinem Nacken ab. „Dieser riesige See bahnte sich eines Tages, vielleicht auch in einer Nacht, im Gebiet des heutigen Mittelschweden seinen Weg Richtung Westen und begann, zum Nordatlantik hin abzufließen. Das war vor 10 200 Jahren. Da muss was losgewesen sein! Bei solchen Schmelzwasserdurchbrüchen gehen ein paarhundertausend Kubikmeter Wasser pro Sekunde auf die Reise.“ Seine Augen leuchteten. „Manchmal auch mehr. Ich hab mir auf dem Weg hierher die Uferreste und die Sedimente dieses Seegrundes angesehen. Man kann die Jahreszeiten abzählen, wie Jahresringe in den Bäumen.“
Vor zwölftausend Jahren lag der globale Meereswasserspiegel 90 Meter tiefer als heute, das fehlende Wasser lag in Form von Eis an Land. Aber das schmolz langsam, der Wasserspiegel stieg, und über den flachen Abfluss des Süßwassersees drang jetzt Meerwasser in das Becken ein. Mehr und mehr vom Eise befreit, hob sich das Land weiter, und dadurch wurde die Ostsee erneut vom Weltmeer abgeschnitten und war ein nunmehr salziger Binnnensee.
Zweitausend Jahre später drang wieder Nordsee- und Atlantikwasser ein, diesmal durch die Belte und den Sund zwischen dem heutigen Südschweden und Dänemark. Und die Entwicklung ist noch nicht vorbei: In zweitausend Jahren wird sich das nördliche Skandinavien so weit über Meeresniveau gehoben haben, dass man Brücken zwischen Finnland und Schweden bauen kann, falls das dann noch Sinn hat.
Die Erderwärmung, der Anstieg des Meeresspiegels – das ist doch heute vom Menschen gemacht, sagte ich, und versuchte, nicht zu vorwurfsvoll zu klingen. „Na klar“, sagte Hinrich und spülte mit einem kleinen Wodka nach, „auch. Zu den bisherigen Faktoren für die unzähligen Klimawechsel in der Erdgeschichte kommt jetzt ein neuer hinzu. Wir. Würde ich aber nicht zu ernst nehmen.“
In Skandinavien wird nach Geschlechtern getrennt gesaunt, was der Stimmung in der Badestube sehr zugute kommt. Zur Abkühlung gibt es auch mal ein Bier oder
einen Schnaps, oder auch zwei. Die Tür zur „Badestube“, einer kleinen Sauna-Hütte hinter uns, flog auf, und unsere Frauen stürzten sich gutgelaunt ins größte Brackwasser der Welt.
Hans-Harald Schack ist Journalist und segelt. Er schreibt Magazin-Reportagen und Bücher, macht Lektorate und Übersetzungen. Mit dem Clipper Round The World Race segelte er von China nach San Francisco und durch den Panama-Kanal in den Atlantik. Sein Web-Log und Reportagen darüber gibt es als e-Book und als Buch: "Von Qingdao nach New York". Zur Zeit ist er mit dem 1971 gebauten S&S-Halbtonner "Topas" in Nordeuropa unterwegs. Das Schiff ist übrigens zu verkaufen!