Reisetagebuch 26.03.2014

Im Rausch der Geschwindigkeit - Tag 10 auf See

Switzerland

Als ich heute um 01.15 Uhr Bordzeit (entspricht gefühlsmäßig Mitternacht) zur Wache von 2 Uhr bis 6 Uhr geweckt wurde, war mein erster Gedanke: Wird Zeit, dass die da oben noch ein Reff einbauen. Oder ein kleineres Vorsegel setzen.

 

Dann legte ich mich noch mal zurück und überlegte, wie ich aus meiner Koje rauskomme. Die Wand mit den Schapps bildete einen steilen Winkel nach links, die Matratzenfläche einen steilen Winkel nach rechts. Der Ausgang lag oben, ich war in einer V-förmigen Schlucht eingeklemmt. Wir segelten auf Backbordbug (was auf Englisch übrigens starboard tack heißt, in den Hornblower-Romanen korrekt mit „Steuerbordhalsen“ übesetzt).

 

Hätte die andere Wache gewendet, während ich schlief, dann wäre die Situation folgende gewesen:

Ich hätte auf einer fast ebenen Matratze gelegen, von der schrägen Wand mit den Schapps über mir hätte ich das Kondenswasser ablecken können (sofern nicht eh schon in meinem Schlafsack). Irgendwo in der Tiefe rechts unter mir läge ein abschüssiger, feuchter lackierter Fußboden.

 

Immer noch kein Segelwechsel oder Reff. Also stehe ich endlich auf, wie alle anderen um mich herum auch, und schlüpfe in feuchte Klamotten. Heute kommt erstmals meine Musto-2nd-Layer-Hose zum Einsatz, damit mein Hintern nicht so auskühlt. An Deck ist es dann wie immer – alles halb so wild. Ja, es weht ordentlich, aber es ist nicht das permanente Heulen unseres ersten Sturms. Wir sind mit 2. Reff und Yankee 2 stark betucht, aber noch nicht eindeutig überpowert. Unter Deck wirkt alles immer etwas aufregender.

 

Der Wind nimmt aber offenbar noch zu, und als Jonathan in die Nacht ruft: „Anybody for help m...“, ruf ich gleich zurück „Yes, me“, denn erstens bin ich immer vorne dabei, wenn’s was zu tun gibt, und zweitens muss derjenige, der am Ruder steht, nicht zum Reffen aufs Vorschiff. Wo die echte Arbeit lauert. Das Steuern ist zwar auch harte Arbeit. Macht aber Spaß, und ich bleibe warm dabei.

 

Als Vincent mich später ablöst, führen wir eine neue Form von Teamwork ein: Ich lese ihm den Kompass vor. Denn die See läuft inzwischen derart wild und unregelmäßig von Achtern an, dass man eigentlich ständig auf den Kompass starren muss. Unser Kurs ist 110 Grad, und wenn du mal zwei Sekunden wegguckst, bist du plötzlich bei 80 oder 140 Grad, ohne dass dir der Druck im Ruder sagt, in welche Richtung „Heidi“ gerade ausgebüxt ist.

 

Gleichzeit sollte man aber auch viel nach vorn schauen, um schäumende Wellenberge zu sehen oder die Bewegungen des Bugs. Steuern nach Zuruf erweist sich als gute Methode.

 

Dann reffen wir doch noch, und kurz vor Wachende, als der Wind wieder abflaut, auch wieder aus. „Mother“ Greg liefert heißen Kakao nach oben, wir kommen gut voran. Einerseits verspüre ich überhaupt kein Bedürfnis danach, noch schneller zu segeln, andererseits frage ich mich nicht als Erster, warum diese gutaussehenden Rennschiffe nicht mit planing speed übers Wasser rasen wie ein Volvo 70er. Könnte daran liegen, dass wir voll ausgerüstet so um die 40 Tonnen wiegen (wie mir Jonathan sagt, ich habe auch schon einen höheren Wert gehört). Aber auch so sind wir schnell genug. Und diese modernen Rennschiffe springen bei Welle derart übers Wasser, dass man ständig auf allen Vieren geht. Was wir auf dem Vorschiff übrigens auch tun.

 

Das Wasser gurgelt wie ein Wildbach in meinem Rücken, wir sind zwischen 10 und 14 Knoten schnell, je nach Welle. Den „Switzerland“-Rekord hält übrigens unser Bordältester Ralf (70): Er schaffte 29,2 Knoten. Mir kam vor ein paar Tagen schon bei 19 Knoten der Gedanke, dass man’s ja nicht übertreiben muss. Die Leute unter Deck brauchen doch auch ihren Schlaf.

 

Euer Vollblut-Racer Harry

 

Den Race Tracker mit der aktuellen Position der „Switzerland“ sowie den anderen elf Teilnehmer-Booten findet ihr unter http://yb.tl/clipper2013-race10 und hier geht's zum vorherigen Artikel.