Mein Wachführer Jonathan, der sich vor ein paar Tagen mal ironisch als „The French Helmsman“ bezeichnet hatte, stand am Ruder, ich als buddy daneben.
Nach zwei Stunden fror ich und hätte gern selbst gesteuert, um wieder warm zu werden. Aber es war mir zu riskant. Ich habe meistens eine Vorstellung von dem, was ich kann und was nicht, und das hier war zu wild. Kein Vergleich mit der wilden Jagd vor zwei Tagen, bei der ich mich am Ruder sehr wohl gefühlt hatte. Wir rasten durch die Nacht, und die Seen links und rechts und hinter uns und vor uns tauchten so abrupt auf, dass mir unser French Helmsman wie ein Geländewagenfahrer vorkam, der versucht, heil aus einem Erdrutsch rauszukommen, der gerade in vollem Gange ist.
Ein Fehler, und es hätte Verletzungen unter Deck und an Deck und vermutlich Schäden am Schiff gegeben. Wir fuhren nur unter Sturmsegel und Stagfock, eine sehr ungewöhnliche Kombination, Aber das Großsegel hatte die Neigung zum Querschlagen verstärkt.
Jonathan steuerte (und ich fror) vier Stunden auf dieser Wache, auch Zweitsteuermann Ed bekam nichts zu tun. Dreimal schlugen die Vorsegel zur anderen Seite hinüber, was unter Großsegel vermutlich als crash gybe geendet hätte. Jonathans Steuerarbeit sah meistens sogar noch elegant aus. Den „Fliegender Holländer“ habe ich in meinem Wortschatz jetzt durch den „French Helmsman“ ersetzt. Das würde auch gut über einen Text von Joseph Conrad passen.
Die See, durch die wir rauschten, war fantastisch. Den ganzen Tag davor waren wir über ein graues Meer unter einem grauen Himmel gefahren, anfangs mit viel, dann mit abflauendem Wind, dann mit rasant zunehmendem. Die Menge der Schaumstreifen und Brecher hielt sich in Grenzen. Wo kleine Wirbel das Wasser aufschäumen ließen, leuchtete es plötzlich hellblau auf. Hin und wieder wanderte ein majestätisches Gebirge durch die Szenerie. Es war vergleichsweise ruhig, nur wo der Wind aufs Schiff trifft, heult und pfeift es. Große Vögel mit schmalen langen Flügeln ließen sich vom Sturm hin und her tragen – wir wissen nicht, ob es Albatrosse sind. Mit vielleicht eineinhalb Metern Spannweite erscheinen sie uns dafür zu klein.
In der Nacht leuchtet das Meer stellenweise grün. Wenn ich nicht Jonathan beim Steuern zusehge, studiere ich die wandernden Berge, die hier und da aus sich heraus leuchten, als würde das Meervolk mit Lampen drin herumgeistern.
Und jetzt, am Vormittag und nach dem Mittagessen ist wieder alles anders.
Die Segelarbeit ist doppelt anstrengend, weil die Wellen das Schiff hin- und herwerfen. Mal bist du auf dem Bug fünf Meter über der Wasseroberfläche, mal türmt sich ein Berg neben dir auf und überschüttet dich mit ein paar hundert Litern Wasser oder fällt, so plötzlich wie er kam, in sich zusammen. Die Sonne scheint, das Segeln und Arbeiten macht Spaß, und ich genieße es in den Pausen, mir diese Wasserwüste anzuschauen.
Außerdem mache ich kurz vor Wachende ein Foto von einem Wimpel meines Segelvereins, den ich am Backbordunterwant befestigte. Er hat heute, vermutlich als erster Wimpel der Niendorfer Jollenstation, die Datumslinie segelnderweise überquert. Foto mit GPS-Daten folgt, sobald wir San Francisco erreicht haben (vermutlich in zwölf Tagen, wenn’s so weiter geht)
Den Race Tracker mit der aktuellen Position der „Switzerland“ sowie den anderen elf Teilnehmer-Booten findet ihr unter http://yb.tl/clipper2013-race10 und hier geht's zum vorherigen Artikel.
Hans-Harald Schack ist Journalist und segelt. Er schreibt Magazin-Reportagen und Bücher, macht Lektorate und Übersetzungen. Mit dem Clipper Round The World Race segelte er von China nach San Francisco und durch den Panama-Kanal in den Atlantik. Sein Web-Log und Reportagen darüber gibt es als e-Book und als Buch: "Von Qingdao nach New York". Zur Zeit ist er mit dem 1971 gebauten S&S-Halbtonner "Topas" in Nordeuropa unterwegs. Das Schiff ist übrigens zu verkaufen!