Wir zischen unter Sonne dahin, und jeder hat seine nassen Sachen irgendwie ausgebreitet. Die Luftfeuchtigkeit liegt klar unter 100 Prozent, wir haben zu Beginn der Morgenwache den Yankee 1 geborgen und den Spinnaker gesetzt.
Und ich hatte das Frühstück weggelassen, weil ich keinen Hunger hatte. Gut, dass es die Snackbox gibt. Denn nach getaner Arbeit (ca. zwei Stunden) haben wir es uns gemütlich gemacht.
Als ich vor einigen Tagen schrieb, dass ich seit drei Wochen keine Zeile gelesen habe, war das nicht ganz richtig. Ich meinte: nichts zur Zerstreuung. Unsere Messe ist mit folienverschweißten Schriftstücken tapeziert, die ebenfalls spannende Lektüre sind. Und die Tatsache, dass sie an die Wände geklebt werden, zeugt von ihrer Wichtigkeit.
Direkt vor meiner Nase, wenn ich sie ein wenig hebe, prangt eine Tabelle mit der Überschrift „Team Switzerland mission, vision and strategy“. Ich werde mich hüten und hier unsere ausgeklügelte Strategie ausbreiten.
Letztens habe ich ja schon Andeutungen gemacht. Das muss reichen. Im Prinzip geht es darum, dass wir einvernehmlich beschlossen haben, dass ein Schiff, das technisch sicher gehandhabt und gut in Schuss gehalten wird, die Basis des Erfolgs ist. Und Sauberkeit ist das Fundament des Wohlbefindens und damit der performance.
Links von diesem Grundlagenpapier ist ein Dreiseiter mit dem Titel „Poled out headsail“, auf Deutsch „Ausgebaumtes Vorsegel“, angeklebt. Statt einen Spinnaker zu fahren, kann man auch einen Yankee 2 oder 3, keinesfall jedoch den Yankee 1, an einem Baum in Luv fahren. Versucht man das mit dem großen Yankee 1, setzte der Baum fast rechtwinklig an der Mastschiene an und reißt sie aus dem Mast, was Folgeschäden nach sich zieht. Das Verfahren „poled out headsail“ gilt, mit einem geeigneten Vorsegel ausgeführt, als bombproof (bombensicher), man muss nur wissen, wie es geht. Daher der Aushang.
Zwei weitere Blätter geben die Wacheinteilung und Notfall-Rollen (Feuer, Mann über Bord) wieder, und vier eng beschriebene Blätter die „Standing Orders“ der Skipperin, sowohl allgemeiner als auch spezieller Natur.
Damit ein Skipper ruhig schlafen kann, muss man ihn regelmäßig wecken. Er muss sich darauf verlassen können, dass er (in unserem Falle sie) auch dann geweckt wird, wenn er hundemüde ist. Wenn die Crew ohne Skipperbeteiligung abwarten darf, ob sich die Lichter eines näherkommenden Schiffs (zwei weiße über einem grünen und einem roten Licht) noch ändern, dann ist dies gefährlich. Die meisten orders betreffen Sicherheit an und unter Deck, Verhalten gegenüber anderen (Hygiene, Ordnung unter Deck) und procedures wie Wachübergabe oder Rudergängerwechsel.
Das mag nach viel Papierkram für kleine Dinge aussehen, ist vermutlich aber mit ein Grund, dass wir seit drei Wochen (manche noch viel länger) absolut stressfrei auf engstem Raum zusammenleben. Gerade in den üblichen Konfliktzonen ist in unserer Wohn- und Segelgemeinschaft alles minutiös geregelt.
Wie die Toiletten zu benutzen sind, ob man sich nackt oder halbnackt an anderen vorbei zum Klo/Waschraum drängeln darf (nein!), Dienstleistungen (mothers, domestics) gegenüber den anderen, Müllbeseitigung – alles ist so klar geregelt, dass kein Diskussionsspielraum bleibt.
Heute morgen lag ich nach den Segelmanövern auf dem Cockpitboden und hielt den Schwerpunkt niedrig (auch eine Anweisung für die Vorschiffcrew bei bewegter See). „Du siehst ganz schön fertig aus“, sagte Jonathan, „alles klar bei dir?“ Ich sagte ihm, dass mir der Rücken weh tut und ich ihn ein wenig entspanne.
Aber er hat recht. Ich bin ziemlich fertig. Unbedeutende Blessuren addieren sich, außer dem Rücken tut mir der Ellenbogen weh, den ich mir in kürzester Zeit dreimal irgendwo gestoßen habe, zuletzt heute morgen an der Backbord-Hauptwinsch. Ich träume auch seltsame Dinge in den kurzen Schlafphasen.
Letzte Nacht träumte ich von Nablus und Ramallah, Städten, mit denen ich noch nie etwas zu tun hatte. Die „Bild“-Zeitung gibt, nach dem Erfolg mit diversen Bibelausgaben, die standing orders des Herrn in limitierter Auflage auf Betonplatten heraus, und ihr Chefredakteur ruft „Wachen Sie endlich auf!“ Der unrasierte Zausel, der sich morgens um viertel nach eins über mich beugt, ist aber mein Vorschiffskumpel Vince, der heute „on mothers“ ist und das Wecken übernommen hat. „Any hot drink?“ fragt er, als ich zum Ölzeugschrank taumele.
Ich schiebe meine Hände durch die nassen Ärmel meines Ölzeugs, das ich wenig später noch nasser schwitzen werde, bevor der Tag sich zu einem Segelsonntag wandelt. Nur noch 900 Meilen, mit ein bisschen Glück ohne Flaute!
Den Race Tracker mit der aktuellen Position der „Switzerland“ sowie den anderen elf Teilnehmer-Booten findet ihr unter http://yb.tl/clipper2013-race10 und hier geht's zum vorherigen Artikel.
Hans-Harald Schack ist Journalist und segelt. Er schreibt Magazin-Reportagen und Bücher, macht Lektorate und Übersetzungen. Mit dem Clipper Round The World Race segelte er von China nach San Francisco und durch den Panama-Kanal in den Atlantik. Sein Web-Log und Reportagen darüber gibt es als e-Book und als Buch: "Von Qingdao nach New York". Zur Zeit ist er mit dem 1971 gebauten S&S-Halbtonner "Topas" in Nordeuropa unterwegs. Das Schiff ist übrigens zu verkaufen!