Vierter, na gut. Es gab mal Zeiten, da hätten wir uns über dieses hart erkämpfte Ergebnis wie Bolle gefreut, aber jetzt sind wir einfach nur glücklich und mäßig zufrieden. Ein knallhartes Rennen ist zuende. Wir fahren wieder wie vernünftige Menschen zur See – also etwas entspannter.
Unseren zweiten Platz bei Cape Hatteras bis ins Ziel zu verteidigen, das wäre schon schön gewesen... aber der kann ja noch kommen. Bis London sind es noch drei Rennen (Zwischenstops in Derry-Londonderry und Den Helder).
Ich gehe in New York von Bord, und die Zeit bis zum Crew Change-over wird voller Arbeit und Termine sein. Deep Clean, Instandhaltung, das übliche. In San Francisco habe ich verwundert betrachtet, wie eilig es die Leute hatten, ihren Kram zu packen und zu verschwinden. Jetzt mache ich es nicht anders. Eben jetzt, in meiner Nachmittagsfreiwache, habe ich mich schon rasiert. Morgen früh brauch ich mir nur noch die Zähne zu putzen!
Gestern deutete Ali S. an, für mich gebe es bestimmt noch einen Platz bis London! No way, deutete ich zurück, ich erwarte meine Frau und Freunde in New York, und zu Hause wartet mein Schreibtisch mit einem Haufen Papier.
Vielleicht wollte Ali auch nur was Nettes sagen. Lindsey sagte auch was Nettes. Ob ich schon mal auf Englisch geschrieben hätte? Nein, sagte ich, bis auf die Geschichte über Seekrankheit in der Crew-Vorbereitung. Mein Englisch sei nämlich ganz gut, meinte sie, bis auf die Grammatik.
Tatsächlich habe auch ich das Gefühl, schon etwas mehr zu verstehen. Nicht alles, aber vieles. Den Rest denke ich mir, und meistens geht das gut.
Heute Morgen ging es mal nicht gut. Vicky kam mit einer Jamaika-Flagge und bat mich, im Backbord-Ölzeugschrank für ein Sponsoren-Foto eine Art Jamaika-PR-Ecke einzurichten, vielleicht mit der Flagge in der Mitte.
Himmel, hätte ich doch bloß ein wenig nachgedacht! Dann gab sie mir die Flagge, lächelte und sagte: „Sorry, Harry, you’re dead!“
Bevor jemand jetzt entsetzt die Seite schließt, eine Erklärung. Nach Ende des Rennens brachen an Bord zwei menschliche Grundbedürfnisse durch: Spielen und Aufräumen. Das Aufräumen geht vor sich wie immer (rasieren, Winschen zerlegen, möglichst viel putzen), das Spiel wurde von Shelly organsiert.
Jeder musste aus drei Beuteln je einen Zettel ziehen. Auf einem stand ein Name – z. B. Shelly – auf den beiden anderen ein Ort und eine „Waffe“ (z. B. „wet locker“ und „Jamaica flag“). Damit musste man eine Person „umbringen“, indem man ihr am angegebenen Ort die „Waffe“ reicht. Nimmt das Opfer das Ding an, ist es tot. Was zur Folge hatte, dass es seit heute Morgen unmöglich ist, irgendeinem Menschen auch nur einen Becher Kaffee in die Hand zu drücken. Immer vermuten sie gleich das Schlimmste. Wen ich umbringen sollte, kann ich hier nicht schreiben, denn die Person lebt noch und könnte diesen Blog im Bord-Computer lesen, wenn ich ihn abschicke.
Dass ich auf Vicky reingefallen bin, hat zwei Gründe, nein drei. Erstens muss ich immer noch konzentriert die Ohren spitzen, wenn sie was sagt, weil sich manchmal sehr schnell spricht. Zum Mitdenken ist dann nicht mehr viel Kapazität frei, denn ich muss ihre Worte akustisch zwischenspeichern, bis sie für mich einen Sinn ergeben. Zweitens ist sie hier der Boss, und insofern gibt es da kein unsinniges Ansinnen. („Jamaika-Ecke im wet locker“, ich bitte Sie!) Jahrzehntelange Erfahrung hat mich gelehrt, dass es keinen Gedanken gibt, den das Gehirn eines Vorgesetzten nicht ausbrüten könnte. Die korrekte Antwort lautet: „Tolle Idee, Chef, dass wir da nicht von selbst draufgekommen sind!“ Ich sagte sinngemäß: „Klar, Vicky, mach ich, ich frag Roser, ob sie mir hilft!“ Denn ich war mir nicht hundert-pro sicher, ob ich alles richtig verstanden habe. Roser stand daneben, und die versteht alles und schaute entsetzt drein.
Ist es zu früh, Bilanz zu ziehen? Ja, wir sind ja noch nicht in New York!
Eines steht aber schon fest: Dies war eine meiner besten Unternehmungen.
Ich kann mir nicht vorstellen, in zwei Jahren nochmal ein oder zwei Etappen zu segeln. Ich würde, wenn jemand die Zeit zurückdrehen würde, sicher alles nochmal so machen (vielleicht ein bisschen besser?). aber ich werde aber nicht das Ganze nicht wiederholen. Rätselhaft?
Ich bin drei Monate lang mit Freunden zusammen gewesen, es sind Freundschaften für die Gegenwart. Ich habe außer ein paar englischen Redewendungen („hold there!“, „lock and load!“, „is there a chance for a second helping?“) einiges in Sachen praktischer Seemannschaft gelernt.
Vicky hat hundertmal meine Daumen („Harry, keine Finger Richtung Winsch“) und mein Leben gerettet. Wenn Vicky naht, checke ich automatisch, ob ich ordentlich angeklippt bin. Das bin ich eigentlich immer, bloß vor zwei Tagen war ich’s mal für ein paar Sekunden nicht, als wir bei viel Wind vom Yankee 1 auf den Yankee 2 wechselten. Was der kompletten Wache außer einem seltenen Lob für ein gutes Manöver auch einen kleinen Sicherheitslehrgang unter Deck einbrachte. Vicky erklärte bei der Gelegenheit, dass es ihre Aufgabe sei, uns heil ans Ziel zu bringen, und dass sie bei der Sicherheit keinen Spaß versteht.
Ich auch nicht, vor ein paar Tagen schwebte ich – am kurzen Sicherheitsstropp – für ein paar Sekundenbruchteile über dem Bug. An dieser Stelle also ein Dankeschön an meine Skipperin, dass sie mich im Großen und Ganzen unversehrt bis hierher gebracht hat! Dass mit dem Mord auf der Zielgeraden nehme ich nicht persönlich!
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Hans-Harald Schack ist Journalist und segelt. Er schreibt Magazin-Reportagen und Bücher, macht Lektorate und Übersetzungen. Mit dem Clipper Round The World Race segelte er von China nach San Francisco und durch den Panama-Kanal in den Atlantik. Sein Web-Log und Reportagen darüber gibt es als e-Book und als Buch: "Von Qingdao nach New York". Zur Zeit ist er mit dem 1971 gebauten S&S-Halbtonner "Topas" in Nordeuropa unterwegs. Das Schiff ist übrigens zu verkaufen!