Ein Jahr vor dem nächsten Vendée Globe stellten sich die neuen Open-60 im Transat Jacques Vabre der Realität. Der erste Härtetest endete mit einem Desaster. Die Optimisten sehen darin eine Chance für die fliegenden Hochseegleiter, und die Experten einen ganz normalen Entwicklungsschritt.
Hugo Boss vorm Ocean Masters in New York
Die Nachricht klang stark nach Totalverlust: Alex Thomson und sein Co-Skipper Guillermo Altadil hatten beim Transat Jacques Vabres (TJV) westlich von La Coruna einen Notruf abgesetzt. Die Küstenwache holte die Segler mit einem Hubschrauber ab. Wenn sich Thomson abbergen lässt, der mit Havarien so viel Erfahrung hat wie mit Siegerehrungen, dann musste man davon ausgehen, dass der Totalverlust des Schiffes droht und die Crew in Lebensgefahr ist.
In der Tat sah’s zunächst danach aus. Was soll man machen, wenn man davon aufwacht, dass man gegen das Kajütdach seines durchgekenterten Schiffs kracht, während draußen das Rigg gegen den Rumpf hämmert, und durch das Hauptluk, durch das man eigentlich den Sternenhimmel sehen sollte, der kalte Atlantik eindringt? Thomson drückte den keel button, der den Kiel maximal kippt und die stabile Überkopf-Lage in eine instabile verwandelt. Das Schiff kenterte zwar in die aufrechte Lage zurück, füllte sich aber weiter mit Wasser. Thomson und Altadil wussten, dass der Rumpf im Bereich eines Schwertkastens leck war, und dass das Rigg weitere Schäden anrichtete. Sie lösten den EPIRB und damit die Rettung aus.
Das Transat Jacques Vabre sollte der erste Härtetest für die neue Generation der Open-60 werden, nach ihrer Klassenvereinigung auch IMOCAs genannt. Von den fünf neuen Schiffen kam nur Armel Le Cleac’hs „Banque Populaire“ ins Ziel, acht Stunden nach der „alten“ PRB. Eine Ausfallquote, die selbst Zyniker schockiert, wie die New York Times anmerkte. Doch der Konstrukteur Guillaume Verdier, dessen Büro (zusammen mit dem Büro VPLP) alle Foiler konstruiert hat, sieht die Dinge gelassener. Er wähnt die Klasse am Beginn einer neuen, spannenden Entwicklung, und weist darauf hin, dass es schwierig ist, Schiffe mit einem unbekannten Potential zu konstruieren. Während Rümpfe bisher für eine Belastung von 15-20 Tonnen pro Quadratmeter ausgelegt waren waren, rechnet er jetzt mit Seeschlag-Drücken von 25 Tonnen. Bruch gab’s trotzdem, und der war tatsächlich vorher gesagt.
Die Schiffe der neuen Generation unterscheiden sich in einigen wesentlich Punkten von ihren Vorgängern. Als SEGEL-Journal vor einigen Monaten den Neubau von „Hugo Boss“ inspizierte (im Rumpf galt Fotografierverbot), fielen die vielen zarten Spanten im Vorschiff auf – der Rumpf erinnerte von innen an das filigrane Spantgerüst einer O-Jolle von 1936. Was man nicht sehen konnte, Alex Thomson aber bereitwillig verriet: Der Rumpf ist in der „slamming area“, dem Bereich des Unterwasserschiffs, der am härtesten in die Wellen schlägt, nur noch 2,7 Millimeter stark. Verdier nennt sogar 2,5 Millimeter. Das ist halb so dick wie eine knapp kalkulierte Stahlbeplankung. Verdier sagte in einem Interview, dass die Verklebung der hauchdünne Carbon-Rumpfhaut mit den Spanten absolut fehlerfrei sein müsse, sonst sei Bruch unvermeidlich. Wobei er andeutete, dass er für den Bruch im TJV nicht den Bootsbauern die Schuld zuschieben möchte.
Schon bevor sein Boot ins Wasser kam, hatte Thomson angekündigt, dass es Schäden geben werde: „Wenn nichts kaputt geht, ist das Boot zu schwer gebaut.“ Diese Regel galt schon zu Zeiten der GFK-Sandwich-Konstruktionen, sie ist jedem Konstrukteur und Regattasegler bekannt. Man setzt ein Boot ins Wasser, und testet und tastet sich an seine Belastungsgrenzen heran. In manchen Bereichen muss man es strukturell verstärken, andere Stellen repariert man einfach, und den einen oder anderen Riss im Inneren betrachtet man sogar als gewollte „Setzung“ und spachtelt ihn nur zu.
Alle Skipper neuer Boote hatten vor dem Rennen erklärt, sie wollten konservativ segeln, was durchaus wörtlich gemeint war, nämlich bootserhaltend. Sébastien Josse kehrte mit „Edmond de Rothschild“ kurz nach dem Start um, „weil wir einige kleinere Probleme hatten, die jedes für sich reparabel gewesen wären, aber angesichts des schweren Wetters, das vor uns lag, wollten wir uns und das Schiff nicht gefährden.“ Eine Stunde später gab „Safran“ mit schweren Schäden um die Foil-Schwertkästen herum auf. Bei „Hugo Boss“ brachen ebenfalls Strukturen in diesem Bereich. „Virbac“ lief mit gebrochenen Spanten Madeira an. Blieb nur noch „Banque Populaire“, und die segelten erkennbar nicht mit voller Kraft. Später war von einem Team-Mitglied zu erfahren, dass in dem Boot „alles gebrochen war, was man nicht auf den ersten Blick sehen konnte“.
Die Havarie von „Hugo Boss“ sei nicht auf die neuen Foils zurückzuführen, erklärte Thomson in La Coruna, die Durchkenterung wäre auch mit einem konventionellen IMOCA passiert. Thomson und Altadil hatten nach provisorischen Reparaturen auf besseres Wetter gewartet, als das Boot von einer rogue wave, einer Monstersee, getroffen und aufs Dach geworfen wurde. Allerdings: Wären sie nicht angeschlagen gewesen, wären sie unter kleinsten Segeln weitergefahren, statt beizudrehen. Insofern war die Kenterung zumindest indirekt eine Folge ihres beschädigten Rumpfes.
Die neuen IMOCAs haben neben kraftvolleren, voluminöseren Rümpfen auch einige Handicaps, sodass die ersten Vergleiche mit den älteren Booten mit Spannung erwartet wurden. Der neue One-Design-Mast ist 60 Kilo schwerer als ausgereizte Spezialanfertigungen und erfordert deshalb, wenn das aufrichtende Moment gleich bleiben soll, 240 Kilo mehr Blei im Kiel. Das wird zum Teil dadurch ausgeglichen, dass bei den neuen Booten der Wasserballast effizienter untergebracht ist. Allerdings darf er nicht mehr in unterteilten Tanks gefahren werden... Auch die Kielfinne ist jetzt einheitlich aus Stahl, sodass dem Wettrüsten hier Einhalt geboten wurde. Weitere Nachteile für die Neubauten: eine schwerere Hydraulik und verschärfte Vorschriften bei der Wahl des Kernmaterials machen die Rümpfe um 150 Kilo schwerer.
Und trotzdem sind sie schneller. Das buchstäblich herausragende Merkmal der neuen Imocas sind die Foils (Tragflächen), die wie Salvatore Dalis Schnurrbart zu den Seiten abstehen. Die Foils machen die Schiffe bei viel Wind und auf Raumschotskursen schneller, aber sie verschlechtern die Amwind-Eigenschaften und den Speed bei wenig Wind. Es leuchtet ein, dass sie nur bei Fahrt ihre Hebekräfte entwickeln können. Guillaume Verdier verriet der Journalistin Jocelyn Blériot, dass die oberen Enden der Foils, die Schäfte, ungeliebte Notwendigkeiten sind, denn sie bremsen das Schiff. Nur die abgewinkelten Spitzen liefern „lift“. Beim schwachwindigen Start des TJV liefen die alten Schiffe den Foilern zunächst davon, wurden dann aber mühelos wieder eingeholt, sobald es aufbriste. Bis es dann etwas zu stark aufbriste.
Obwohl die Foils und die Schwertkästen, in die ihre Schäfte eingezogen werden, hochbelastete und empfindliche Punkte sind, entlasten sie die gesamte Struktur. Bei den ersten Testfahrten war selbst Konstrukteur Verdier überrascht, dass „Safran“ nicht nur schneller, sondern auch ruhiger als ein konventioneller Imoca fuhr. „Ich war überrascht vom gutmütigeren Verhalten des Bootes in der See.“ Dadurch, dass der Rumpf teilweise aus dem Wasser gehoben wird, setzt er der See weniger Widerstand entgegen. Er segelt nicht nur schneller, er steckt auch weniger Schläge ein.
Die Imoca-Bauvorschriften verbieten Verstellvorrichtungen für die Foils. Die rechnerisch hochgerüsteten Konstrukteure, insbesondere Marktführer Verdier, finden das schade, aber die Segler sind darüber ganz froh. Trimmbare Foils würden noch mehr Arbeit bedeuten. Die neuen Boote sind ohnehin anstrengender zu segeln als die Vorgänger-Generation. Sie reagieren empfindlicher auf Fehler in der Segelführung. Zuviel Fläche vertragen sie nicht, und bei zu wenig Tuch fallen sie sofort hinter ihre mit konventionellen Schwertern ausgestatte Konkurrenz zurück. Den Konstrukteuren ist bewusst, dass die Erschöpfung der Skipper beim nächsten Vendée Globe rennentschiedend sein kann. Vor allem, wenn sie vor Müdigkeit zu lange mit dem Reffen warten.
Imocas sind enorm starke Boote, wenn man sie richtig bedient. Sie zittern und beben während der Fahrt, sie machen beängstigenden Krach in der Kohlehöhle unter Deck und bieten an Deck ein Leben im Vollwaschgang. Sie sind andererseits fantastisch gutmütige, übers Wasser dahinrauschende Boote, bei denen alles für die Bedienung durch einen Mann – oder eine Frau – optimiert ist. Imocas gelten nicht umsonst als die erfolgreichste Klasse im Hochseesegeln. Es ist aber eine Menge Feintuning und immenses Können nötig, wenn man alles aus ihnen herauszuholen will, ohne sie kaputt zu machen.
Den Bruchpiloten des TJV fehlt jetzt wichtige Trainingszeit auf ihren neuen Geschossen, um diese regattatauglich zu machen. Und das heißt im ersten Schritt: seetüchtig. Derweil lauert der Rest der Szene auf die Verbesserungen und will vom Lehrgeld profitieren, dass die Pioniere derzeit zahlen. Sowohl die Konstrukteure als auch die Werften verstehen ihr Handwerk, und Thomson & Gefährten sind guter Dinge, beim Ocean Masters, das Ende Mai von New York nach Les Sables d’Olonne führt, mit starken, schnellen Schiffen am Start zu sein.
Bevor vor fast zwei Jahren die ersten Foiler in Auftrag gegeben wurden, haben die Konstrukteure ihre Entwürfe unzählige Male um die Erde gejagt – im Computer. Dabei wurde simuliert, wie sich Foiler bei früheren Regatten bewährt hätten. Mit Programmen der „Computational Fluid Dynamics“ (CFD) lässt sich inzwischen recht genau berechnen, wie sich ein Schiffskörper im Seegang verhält und welche Widerstände er überwinden muss. Auf einem Downwind-Rennen wie dem Ocean Masters oder dem Vendée Globe sind die Foiler den älteren Imocas mit ihren Steckschwertern deutlich überlegen. Auf Starkwind-Raumschotskursen, wie sie beim Vendée Globe überwiegen, sind sie um 3 Knoten schneller. Im Schnitt, wohlgemerkt.
Das Englische Fachblatt "seahorse" wagt die Prognose, dass trotz des desaströsen TJV eines der neuen Schiffe das Vendée Globe 2016/17 gewinnen und einen Streckenrekord aufstellen wird. Falls nicht alle zu Bruch gehen.
Edmond de Rothschild bei bestem Wind
Hans-Harald Schack ist Journalist und segelt. Er schreibt Magazin-Reportagen und Bücher, macht Lektorate und Übersetzungen. Mit dem Clipper Round The World Race segelte er von China nach San Francisco und durch den Panama-Kanal in den Atlantik. Sein Web-Log und Reportagen darüber gibt es als e-Book und als Buch: "Von Qingdao nach New York". Zur Zeit ist er mit dem 1971 gebauten S&S-Halbtonner "Topas" in Nordeuropa unterwegs. Das Schiff ist übrigens zu verkaufen!