Das Segeln im Winter hat einige Vorteile (etwa leere Häfen), aber auch ein paar Nachteile. Eric Tabarly, Frankreichs erster Transatlantik-Regattaheld, brachte es auf den Nenner: "Die Nächte sind lang, und es ist kalt." Die wenigstens dürften das für erstrebenswert halten, aber der Hochseesegler im Dienste der französischen Marine sah darin besonders wirkungsvolle Trainingsbedingungen. Er empfahl auch Boxen als Training für Einhand-Segler.
Mein Freund Michael hat spät mit dem Segeln angefangen, so Anfang fünfzig. Er ist der lebende Beweis dafür, dass der Mensch auch im mittleren Alter noch seinen Horizont erweitern kann. Seine erste Nachtfahrt absolvierte er in der Nebensaison, deutlich nach seinem 56. Geburtstag. Die Nacht war etwa 14 Stunden lang, und es war kalt. Ideale Trainingsbedingungen also, aber vielleicht nicht fürs erste Mal. Das Boot war eine First 21.7, der Charterpreis entsprach Schiffslänge und Komfort. Während Michael steuerte, wurde ich schläfrig. Ich pickte mich ein. Ich wäre nicht der erste, der im Schlaf über Bord geht, und angesichts der niedrigen Wassertemperatur hätte Michael sich sputen müssen, mich zu bergen. Einen Schluck Whisky im Magen, lag ich im Cockpit und blickte hinauf in eine klare Ostsee-Nacht.
Weitblick auf der Schattenseite
Die Milchstraße schimmerte so brillant, dass ich glaubte, sie in einzelne Sterne auflösen zu können. Kassiopeia stand hoch über dem Horizont. Ich konnte sogar Andromeda erkennen. Ich weiß erst seit kurzem, dass man die Andromeda-Galaxie als verwaschenen "Sternennebel" drei Handbreit unter dem rechten Dreieck des Kassiopeia-"W" ausmachen kann. Der weiteste Kassiopeia-Stern ist 8000 Lichtjahre von uns entfernt, Andromeda roundabout 2,5 Millionen Lichtjahre. Das schwache Licht, das ich in dieser eisigen Nacht sah, wurde also vor 2,5 Millionen Jahren – plus/minus ein paar hunderttausend Jahre für den Durchmesser der Galaxie – von tausend Milliarden Sonnen abgefeuert. Von den Unmengen des Lichts, das damals ausgesandt wurde, kommt nur ein unvorstellbar kleiner Bruchteil auf meiner Netzhaut an, der größte Teil dieses Lichts hat entweder etwas anderes beleuchtet oder gar nichts und ist deshalb noch unterwegs, bis sich ihm irgendetwas in den Weg stellt. Zum Beispiel ist jetzt gerade meine Netzhaut Endstation für ein paar Photonen aus der Andromeda-Galaxie. Ich träume mit offenen Augen. Die Eisenatome im Großschotschäkel, die Kalzium-Atome in meinen Knochen und auch der größte Teil der Ostsee wurden vor mehren Milliarden Jahren in irgendeiner Sonne zusammengebacken, aber nicht in der Wasserstoff-Helium-Hölle, die im Moment die andere Seite unseres Trägerplaneten und in ein paar Stunden hoffentlich auch unser kleines Boot beleuchtet.
Neben diesen Wundern beschäftigt mich kurz auch die Frage, wie ich meinen Schlafsack zu Hause vergessen konnte und warum ich mir manchmal Gedanken mache, von deren Nützlichkeit meine Frau oder mein Chefredakteur nur schwer zu überzeugen sind.
Plötzlich bin ich wieder wach. "Soll ich steuern?" frage ich Michael. "Da hast ja nur zehn Minuten geschlafen", sagt er. Auf See habe ich die Erfahrung gemacht, dass eine Mütze voll Schlaf in der Hundekoje erholsamer sein kann als an Land eine Nacht unterm Plumeau. An Land bin ich oft müde und träge, vor allem nach Kantinen-Mahlzeiten. Während eines längeren Törns auf dem Atlantik habe ich nie mehr als drei Stunden am Stück geschlafen, meist weniger als zwei Stunden, und fühlte mich nicht ein einziges Mal müde. Wenn ich’s mir aussuchen könnte, würde ich auch an Land nur dann schlafen, wenn ich müde bin, und nur dann essen, wenn ich Hunger habe. Vermutlich hätte ich dann auch mein Idealgewicht.
Es ist drei Uhr morgens, und bis es Tag wird, dauert es noch ein paar Stunden. Auf so einer Nachtfahrt im Winterhalbjahr schafft man ordentlich Strecke zwischen Sonnenunter- und Sonnenaufgang. Ein Vorzug, den Tabarly nie erwähnt hat! Wir sind am Vorabend viel zu spät in Breege auf Rügen losgefahren, aber wir wollten lieber nachts fahren, als bis zum nächsten Tag zu warten und dann womöglich bei pottendickem Frühnebel bis Mittag im Hafen festliegen. Wir fummelten uns also im Dunkeln einige Stunden lang durch ziemlich komplizierte Fahrwasser mit vielen unbeleuchteten Tonnen, bis wir schließlich freien Weg nach Norden hatten.
Die Erfindung der Wendhalse
Als es endlich anfängt heller zu werden, haben wir Kap Arkona achteraus. Michael kocht Kaffee, den wir im strahlenden Sonnenschein einnehmen. "Stell dir vor, wir wären im Hafen geblieben und würden jetzt erst wach werden!" Dann gehen wir beide bis Bornholm nicht mehr unter Deck, denn es wird windig und das Schiffchen hat nicht so viele Reffs, wie es bräuchte. Die First 21.7 hat zwei Reffs.
Sie hat auch zwei Ruder. Das eine müssen wir abbauen, weil sich vom unteren Beschlag eine Schraube verabschiedet und die andere halb gelöst hat. Mit dem verbleibenden Ruder – dem Luvruder – segelt das kleine Schiff ganz erbärmlich, vor allem, wenn es zu viel Segel führt und nur zwei Mann Crew hat. Dauernd schießen wir schwungvoll in die Sonne. Ich werfe Micheal einen nachdenklichen Blick zu. Sein grimmiger Rückblick bedeutet: Dann mach’s doch selber besser. Aber es ist hoffnungslos. Fock wegrollen bringt gar nichts. Da das Abfallen schwierig bis unmöglich ist, fahren wir immer gleich mit dem Schwung eine Wendhalse (wie wir das neuartige Manöver nennen) und versuchen, den nächsten Sonnenschuss möglichst lange hinauszuzögern. So pirschen wir uns mit einigen Kringeln an Bornholm heran. Wenn uns die Polizei sehen würde, müssten wir pusten.
Wir sind vor Sonnenuntergang auf Bornholm und essen wenig später am Marktplatz eine miserable Pizza mit Formfleisch. Am nächsten Morgen kaufen wir Bolzen, reparieren das Ruder und machen uns dann auf den Rückweg. Für Michael, der bisher nur unter freundlicheren Bedingungen gesegelt ist, ist dies ein harter Trip. Immerhin scheint die Sonne, aber wir führen wieder zuviel Segelfläche. Als die Sonne untergeht, scheint Michaels Bedarf an kerniger Seefahrt gedeckt. Er rät mir, Glowe anzulaufen. Ich ahne, dass Weitersegeln das Ende einer wunderbaren Freundschaft bedeuten könnte. Kurz nach Mitternacht binden wir im leeren Hafen fest. Wieder eine Meuterei im Keime erstickt, und wir können am Morgen heiß duschen!
Der Körper ruft: Pause!
Männer neigen manchmal dazu, es mit der Härte zu übertreiben. Entweder wollen wir uns oder anderen was beweisen, oder wir sind Masochisten und finden es schön, wenn der Schmerz nachlässt, das Gefühl in die Finger zurückkehrt und die Seekrankheit einem gesunden Appetit weicht. Tatsächlich beeindrucken wir damit niemanden außer uns selbst. Und zu oft machen wir den Fehler, unsere eigenen Grenzen mit denen der anderen gleichzusetzen. Natürlich hätten wir weitersegeln können. Der Wind war stark, aber kein Sturm. Es gab Essen, Wasser und geistige Getränke reichlich an Bord. Die Navigation war unproblematisch, das Schiff technisch soweit in Ordnung. Es lief zwar reichlich Wasser durch die Fensterdichtungen in der Bordwand, und sammelte sich in den Schwalbennestern in der Kajüte, und dort insbesonders in unseren Handys. Aber das war nicht gefährlich. Es war alles einfach ein bisschen anstrengend, und ich hatte meine Kapazitäten zu 20 und Michael seine zu 40 Prozent ausgeschöpft. Er ist ein zäher Hund, und hätte noch deutlich mehr verkraftet. Nur leider schreit der normale Körper bei 33 Prozent: Halt, ich will nicht mehr! Pause! Schluss mit der Schinderei!
In ernsten Situationen – Kampf, Flucht, Klärung von Grundsatzfragen in der Partnerschaft – gehen wir problemlos bis an die Grenzen unserer Leistungsfähigkeit, und wenn’s einmal richtig ernst wird, mobilisieren wir so etwas Geheimnisvolles wie die "autonomen Reserven". An die kommt man nur mit einem geheimen Passwort, worüber gern in der Sport-Psycholiteratur diskutiert wird. Auch in Wettkampf-Situationen fordern wir uns manchmal über 100 Prozent. Langstreckenläufer kippen kurz vorm Ziel um, Regattasegler setzen nachts auch bei Sturm den Spi. Mitunter hilft ein guter Witz, aktuelles Elend erträglich zu machen. Leider fallen einem die guten Witze nicht ein, wenn man halb erfroren auf der hohen Kante hock und nicht unter Deck kann, weil einem dort sofort schlecht würde.
Danke, dass Sie so weit gelesen haben!
Am nächsten Vormittag kreuzen wir bei Flaute Richtung Hiddensee. Als wir in der Abenddämmerung unser Ziel in Breege erreichen, beglückwünschen wir uns heftig zu unserem erfolgreichen kleinen Törn. Das Bier schmeckt etwa zehnmal so gut wie unter normalen Bedingungen. Auch das hat Tabarly verschwiegen.
Hans-Harald Schack ist Journalist und segelt. Er schreibt Magazin-Reportagen und Bücher, macht Lektorate und Übersetzungen. Mit dem Clipper Round The World Race segelte er von China nach San Francisco und durch den Panama-Kanal in den Atlantik. Sein Web-Log und Reportagen darüber gibt es als e-Book und als Buch: "Von Qingdao nach New York". Zur Zeit ist er mit dem 1971 gebauten S&S-Halbtonner "Topas" in Nordeuropa unterwegs. Das Schiff ist übrigens zu verkaufen!